Ich wünsche euch allen frohe Weihnachten, besinnliche Feiertage und einen guten Rutsch ins Neue Jahr! Wir sehen uns in 2020!
Weihnachtschaos – Zum Glück vertauscht
„Ich flehe dich an, Schwesterherz“, jammert Bianca am anderen Ende der Leitung. „Bitte, hilf mir. Der Laden befindet sich ganz in der Nähe von deiner Arbeitsstelle. Ich weiß, dass du gerade Schluss gemacht hast, also kannst du schnell vorbeischauen. Am Montag ist Weihnachten. Das wird eine Katastrophe, wenn Lolo ihr Geschenk nicht bekommt. Bitte, ohne dich bin ich aufgeschmissen.“
Bianca klingt verzweifelt. Ihrer Tochter hat sich Mitte der Woche eine Magenverstimmung eingefangen. Drei Tage lang hat sie mehr Zeit über der Kloschüssel verbracht als mit ihren heißgeliebten Büchern. Ich verstehe, dass meine Schwester nicht den weiten Weg vom Stadtrand zum Spielzeuggeschäft auf sich nehmen will. Dennoch bin ich nicht gerade begeistert.
„Du weißt, wie gehemmt ich fremden Menschen gegenüber bin“, erinnere ich sie. „Muss es wirklich sein? Kannst du nicht jemand anderen darum bitten?“
„Mir ist bewusst, dass ich viel von dir verlange. Wenn ich jemand anderen losschicken könnte, würde ich es tun.“
Seufzend sehe ich auf die Uhr. Samstagnachmittag. Drei Stunden vor Ladenschluss. Zwei Tage bis Weihnachten. Eine kurze Besorgung. Doch die zwingt mich, mich mit mir unbekannten Menschen auseinanderzusetzen. Nicht gerade das, was ich gerne tue. Zum Glück bin ich nicht gezwungen, mit irgendjemandem Small Talk zu halten. Dann wäre ich wirklich aufgeschmissen.
„In Ordnung“, sage ich und bemühe mich, meine mangelnde Begeisterung in meine Stimme zu legen. „Schick mir die Adresse aufs Handy. Dann besorge ich Lolos Geschenk. Dafür verlange ich allerdings eine Gegenleistung.“
„Du kriegst alles von mir, sobald ich nicht mehr als Krankenschwester hier festsitze“, verspricht meine Schwester und atmet hörbar erleichtert aus. „Was brauchst du? Eine meiner Nieren? Meine Eizellen? Mein Haus?“
„Ein Geschenk für Lolo. Diesen Zauberstab, den sie sich von mir gewünscht hat, kann ich einfach nicht finden. Im Internet ist er ausverkauft. Alle möglichen Läden habe ich angerufen. Man hat sich über mich lustig gemacht, weil ich so spät dran bin. Jeder außer mir weiß anscheinend, dass das Ding seit Monaten nicht mehr erhältlich ist. Ich muss das Spielzeug irgendwo herkriegen. Ich will nicht riskieren, einen Teenager zu enttäuschen.“
Meine Schwester lacht. „Noch zeigt sie keine Pubertieranzeichen, aber ich verstehe deine Sorge. Für den Notfall habe ich noch einen Vorrat an Geschenken angelegt. Schließlich bin ich keine Anfängermutter.“
Bianca nimmt ihren Job als Mum sehr ernst. Ihr Mann ist oft im Ausland unterwegs, sodass sie sich allein um Lolo kümmern muss. Ich beneide sie nicht darum. Für ihre Voraussicht bin ich dankbar.
„Ich hole das Geschenk jetzt gleich, muss dann also noch Lebensmittel einkaufen. Vor sieben schaffe ich es sicher nicht zu dir.“
„Kein Problem. Wir können hier ohnehin nicht weg. Mein Magen fühlt sich auch schon seltsam an. Hoffentlich bleibt mir die Magengrippe erspart.“
Meine Nackenhaare stellen sich auf. „Wenn ihr mich ansteckt …“
„Die Übergabe findet vor der Haustür statt. Keine Sorge. Ich halte dich von den Bazillen fern.“
Das will ich auch hoffen.
Eine Horde jubelnder und plappernder Jugendlicher kommt aus der Tür, durch die ich ein paar Minuten später will. Ein Junge rempelt mich an und entschuldigt sich sofort. Zumindest hat er gute Manieren. Dennoch ist es mir unangenehm, den Kids so nahe zu kommen.
Als ich den kleinen Laden betrete, fallen mir sofort die unzähligen Fanartikel zu dieser bestimmten Buchreihe ins Auge. Ich habe die Bücher als Jugendliche auch gelesen. Zauberer, Dämonen, Monster, Schicksal, Magie, Drama und angeblich irgendwann auch mal eine ziemlich kitschige Liebesgeschichte. Bis dahin habe ich allerdings nicht durchgehalten. Ich glaube, da war ich schon zu alt, als dass der Zauber der Bücher auf mich hätte überspringen können. Lolo ist jung und fantasiereich genug, um damit etwas anfangen zu können. Welchen Artikel aus dieser Fantasywelt sie sich wohl gewünscht hat? Ich werde es gleich erfahren.
Die Verkäuferin, die mich begrüßt, wirkt etwas gestresst. Vermutlich hätte ich an ihrer Stelle bereits die Nerven weggeschmissen. Weihnachten macht selbst aus ganz vernünftigen Menschen aggressive Monster. Das funktioniert ganz ohne Magie.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragt sie mich, der Blick zu jemanden huschend, der nach mir gekommen ist.
„Ich hole nur ein Geschenk ab. Meine Schwester hat es weglegen lassen.“ Den Namen meiner Schwester schiebe ich noch nach.
„Kein Problem. Bin sofort wieder da.“
Die junge Frau verschwindet eilig, und ich drehe mich zu dem anderen Kunden um. Überrascht heben sich meine Augenbrauen, als ich den Mann hinter mir erkenne. Dieses Gesicht begegnet mir jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit.
Errötend wende ich mich ab. Ausgerechnet ihn hier zu sehen, überfordert mich. Ob ich etwas sagen soll? Wir haben noch niemals ein Wort miteinander gewechselt. An der Kreuzung vor dem Gebäude, in dem sich meine Arbeitsstelle befindet, stehen wir meist auf gegenüberliegenden Seiten der Ampel. Er ist ein Fremder, und dennoch glaube ich, ihn gut zu kennen. Er trägt immer Anzug, Krawatte und Hemd sowie eine Aktentasche. Einmal hatte er ein juristisches Fachbuch in der Hand, weshalb ich annehme, dass er in der Anwaltskanzlei gegenüber arbeitet. Meist stecken Kopfhörer in seinen Ohren. Manchmal höre ich beim Vorbeigehen ein paar Töne. Ich glaube, der Fremde mag Pop.
Seit mehreren Wochen lächeln wir uns an. Manchmal nickt er mir zu. Einmal hat er mir sogar zugezwinkert. In diesem Moment bin ich so erschrocken, dass die Menschen hinter mir mich beim Grünwerden der Ampel vorwärtsgeschoben haben. Ich habe einfach vergessen, mich in Bewegung zu setzen. Nach diesem Tag hat der Fremde sogar das Lächeln unterlassen, dabei hatte ich gehofft, er würde mich endlich einmal ansprechen. Ich bin dazu viel zu schüchtern.
Die Vitrine hinter der Kasse ist so perfekt poliert, dass ich mich darin spiegle. Hinter mir kann ich den Mann sehen. Gerade betrachtet er Figuren einer Fantasyreihe mit Drachen und seltsam geformten Reitern. Dann dreht er den Kopf, lässt seinen Blick über meine Rückseite gleiten. Beinahe meine ich, dieses visuelle Abtasten körperlich zu spüren. Ich wünschte, ich könnte im Erdboden versinken.
Die Verkäuferin kehrt zurück und hält mir ein Paket entgegen. Das Geschenk für Lolo ist bereits in Weihnachtspapier eingepackt und mit einer hübschen Schleife versehen. Das schwarz-goldene Muster wird Lolo bestimmt gefallen. Seit ein paar Jahren hasst sie pink. Sobald Spielzeug zu bunt wird, macht sie einen großen Bogen darum.
„Ein besonderes Angebot so kurz vor Weihnachten“, erklärt die Verkäuferin. „Da uns die meisten Kunden beim Abholen ohnehin darum bitten, kümmern wir uns vorab darum, um etwas Zeit zu sparen.“
„Das ist eine großartige Idee.“ Ich greife nach dem Paket. „Da ich nicht annehme, dass meine Schwester bereits bezahlt hat, würde ich das gleich erledigen. Dann können Sie sich um Ihre anderen Kunden kümmern.“ Und ich möglichst schnell wieder von hier verschwinden.
Die Verkäuferin nickt und tippt auf ihre Kasse ein. Kurz darauf kann ich die Rechnung einstecken und mich nach einem Gruß in Richtung der Verkäuferin auf den Weg nach draußen machen.
Mit gesenktem Blick will ich an dem Mann von der Ampel vorbei.
„Wir beide kennen uns“, sagt er.
Ich überlege, weiterzugehen, hebe aber dann den Kopf. „Sie irren sich.“
„Doch, du arbeitest gleich gegenüber. Wir beginnen jeden Tag gleichzeitig mit der Arbeit. Meistens sehen wir uns an der Ampel in der Weserstraße.“
„Schon möglich“, murmle ich.
„Wie witzig, dass wir uns hier treffen“, plaudert er weiter. „Hast du Zeit für einen Kaffee? Ich würde dich gerne einladen und herausfinden welchen Job du hast.“
Blinzelnd starre ich ihn an. Braunes kurzes Haar, markante Augenbrauen, blitzende blaue Augen, eine gerade Nase, weich wirkende Lippen ein kurz gestutzter Vollbart. Er hat mir gefallen, seit ich ihn das erste Mal gesehen habe. Zu gerne hätte ich meine Scheu abgelegt und ihn näher kennengelernt. Ich habe mir immer vorgestellt, wie wir beide eines Tages in der Mitte der Straße stehenbleiben und ins Gespräch kommen. Die Welt würde für uns stehenbleiben, damit wir uns in Ruhe unterhalten können.
Es ist klar, dass das niemals passieren wird, weil täglich viel zu viele Leute gleichzeitig mit uns die Straßenseite wechseln. Die Fahrzeuge hupen, wenn man sich beim Blinken der Ampel noch auf dem Zebrastreifen befindet. Das hier ist eine großartige Möglichkeit. Jetzt könnte ich mehr über ihn erfahren. Ich bringe allerdings kein Wort über die Lippen.
„Magst du Kaffee nicht?“, fragt er lächelnd. Mein perplexes Schweigen scheint ihn nicht zu beleidigen. „Du kannst gerne auch auf einen Tee ausweichen. Es wäre nur zu schade, wenn wir uns diese Gelegenheit entgehen lassen würden. Inmitten einer Menschenmenge, die in unterschiedliche Richtungen drängt, flirtet es sich so schwer.“
Flirten? O, Mann. Seine Stimme ist angenehm tief und beruhigend. Dennoch kämpfe ich mit meiner Schüchternheit. „Ich … ich muss eigentlich gleich los. Meine Schwester wartet auf mich.“
„Schade, bist du sicher, dass sie sich nicht ein wenig gedulden könnte? Allzulange habe ich ohnehin nicht Zeit. Oder wir tauschen unsere Nummern aus. Dann können wir uns an einem anderen Tag verabreden. Was hältst du davon?“
„In diesen Dingen bin ich nicht sonderlich gut“, sage ich. „Entschuldige.“
Völlig überfordert trete ich die Flucht an. Ich laufe an ihm vorbei nach draußen. Mein Brustkorb ist verdammt eng. Meine Lungen scheinen nicht genug Luft holen zu können, um mich am Umkippen hindern zu können. Das Unwohlsein, das mich in der Nähe von Menschen oft überfällt, schaltet meine Vernunft aus. Ich möchte nicht, dass mich der Mann, für den ich schwärme, oder die Verkäuferin für verrückt halten. Wie sollte ich erklären, was die Panik mit mir anstellt, wenn ich einfach keine Worte vor Fremden finde?
Zum Glück habe ich das Geschenk bekommen und bezahlt. Jetzt kann ich Bianca das Paket vorbeibringen und hoffentlich bald vergessen, dass ich mich bis auf die Knochen blamiert habe.
Auf dem Heimweg muss ich noch Lebensmittel einkaufen. Ich laufe durch den Supermarkt, immer darum bemüht, keinem anderen Kunden zu nahe zu kommen. Selbst bei der Kassa halte ich den Blick gesenkt und beschränke mich auf einen kurzen Gruß und den Hinweis, mit meiner Karte zahlen zu wollen.
Ich weiß, dass mich meine Unfähigkeit, mich normal mit fremden Menschen zu unterhalten, einschränkt und zu einem Sonderling macht. Meine Unsicherheiten und Erfahrungen in der Kindheit tragen Schuld daran. Vielleicht wäre ich in der Lage, das irgendwann zu überwinden. Bis jetzt hat mir allerdings die Kraft dazu gefehlt.
Als ich schließlich an der Haustür von Bianca anlange, bin ich erleichtert, die Herausforderung überstanden zu haben.
„Wir haben ein Problem“, sagt meine Schwester, als ich ihr das Paket und die Rechnung in die Hand drücke. Sie schickt mir einen Blick voller Mitgefühl. Das gefällt mir gar nicht.
„Was ist los?“, frage ich besorgt. „Geht es Lolo schlechter?“
„Nein, aber das Geschenk, das du mitgebracht hast, ist nicht das Richtige.“ Bianca hält die Packung hoch. „Das ist nicht, was Lolo sich gewünscht hat.“
Ich runzle die Stirn. „Wie willst du das wissen? Du kannst nicht unter das Papier schauen.“
„Das Paket ist viel zu groß. Ich habe die Schachtel im Laden gesehen. Dort hatten sie nur noch eine Puppe mit einem Kratzer im Gesicht. Dennoch weiß ich, welche Ausmaße sie haben sollte.“
„Eine Puppe?“ Was will ein Teenager mit einer Puppe?
Meine Schwester macht eine wegwerfende Handbewegung und schlingt dann die Arme um sich. „Eine Figur aus Lolos Lieblingsbuchreihe. Auf der Rechnung steht der richtige Artikel. Du hast nur den falschen mitbekommen.“
„Das tut mir schrecklich leid. Vielleicht wäre es hilfreich gewesen, wenn du mir mehr Informationen mitgeteilt hättest. Ich hoffe, sie tauschen dir das am Montag noch um.“
Bianca schüttelt den Kopf. „Du musst noch einmal hin und das klären. Leider fühle ich mich nicht sonderlich gut, sonst würde ich vorschlagen, du kümmerst dich um Lolo, damit ich mich auf den Weg machen kann.“
„Ich bei deinem kranken Kind? Lolo liebe ich heiß und innig. Diese Magengrippe klingt jedoch nicht reizvoll. Du siehst auch ganz blass aus. Bestimmt ist eure ganze Wohnung voller Bazillen. Dann gehe ich lieber …“ Die Worte wollen meinen Mund nicht sofort verlassen. „Dann gehe ich lieber, und organisiere dir das richtige Paket.“
Diese Zusage bereue ich auf dem Weg zurück zum Laden. Mein Puls beginnt zu rasen, weil ich durch das falsche Paket dazu gezwungen bin, mich mit der Verkäuferin auseinanderzusetzen. Es ist nicht mit einem freundlichen Gruß getan. Ich werde um mein Recht und um Lolos Geschenk kämpfen müssen. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Solche Situationen vermeide ich normalerweise erfolgreich. Hoffentlich weiß Lolo zu schätzen, was ihre ängstliche Tante auf sich nimmt.
Im Laden angekommen muss ich warten, bis die Verkäuferin Zeit für mich hat. Inzwischen haben sich einige Kunden mehr eingefunden, die letzte Weihnachtseinkäufe erledigen wollen. Die Tatsache, mit so vielen Menschen in dem kleinen Laden eingesperrt zu sein, verursacht mir Magenkrämpfe. Man könnte meinen, ich hätte mich bei Bianca angesteckt, doch ich kenne diese körperliche Reaktion leider zu gut.
„Haben Sie etwas vergessen?“, fragt die Verkäuferin, als ich schließlich bis zu ihr vorgedrungen bin.
„Nein, Sie haben mir das falsche Paket mitgegeben. Meine Schwester ist sicher, dass die Größe nicht zu der Puppe passt, die sie bestellt hat.“
Die junge Frau nimmt das Päckchen entgegen und wirft dann einen Blick auf die Rechnung. „Es scheint, als hätten Sie Recht. Lassen Sie mich etwas überprüfen.“ Sie geht ihre Unterlagen durch, wird immer blasser, und verschwindet im Lager.
„Das tut mir jetzt aber wirklich leid“, sagt die Verkäuferin, als sie zurückkehrt. „Ich habe das richtige Päckchen nicht mehr. Anscheinend habe ich es mit dem eines anderen Kunden verwechselt.“
Einem anderen Kunden …
Ich habe so eine Vermutung, um wen es sich handeln könnte, auch wenn ich mich zu gerne irren würde. „Dann tauschen Sie meines einfach aus. Ich nehme die richtige Puppe gerne auch uneingepackt mit, und Sie klären das Problem mit der Verwechslung dann mit dem anderen Kunden.“
„So einfach ist das leider nicht. Wir haben die Puppe, die Ihre Schwester bestellt hat, nicht vorrätig. Wenn Sie allerdings auf eine andere Figur ausweichen würden …“
„Kommt nicht infrage. Meine Nichts will diese Puppe, also bekommt sie sie auch. Der Fehler liegt bei Ihnen. Ich sehe nicht ein, warum sie deswegen darauf verzichten sollte.“
Die Verkäuferin runzelt die Stirn. „Ich weiß nicht recht, wie wir das Problem in den Griff bekommen können. Das richtige Paket ist nicht mehr hier.“
Obwohl mir diese Diskussion langsam zu viel wird, will ich nicht nachgeben. Bianca hat das Geschenk extra bestellt. Da die Verkäuferin keine Anstalten macht, selbst auf die logische Lösung zu kommen, spreche ich sie aus. „Geben Sie mir die Daten von dem Kunden, dem Sie mein Paket ausgehändigt haben. Dann setze ich mich mit ihm in Verbindung und tausche die Geschenke aus.“
Sie schüttelt den Kopf. „Ein Zeiten der neuen Datenschutzbestimmungen ist das leider nicht möglich. Aber ich glaube, Sie kennen den Mann. Sie haben sich mit ihm unterhalten, bevor er sein Paket geholt hat. Vielleicht benötigen Sie meine Hilfe gar nicht.“
Mein Ampelbekanntschaft. Ich habe gehofft, meine peinliche Flucht einfach vergessen zu können. Bin ich bereit, mich dem Urteil des Fremden zu stellen?
„Ehrlich gesagt haben wir uns nur ein paar Mal auf der Straße gesehen, ohne uns zu unterhalten.“ Ich bemerke den irritierten Blick, den die Verkäuferin mir zuwirft, und zucke mit den Schultern. „Komplizierte Geschichte. Jedenfalls weiß ich nicht, wie er heißt oder wo er wohnt. Seine Nummer habe ich schon gar nicht. Es wäre nett, wenn Sie ihn kontaktieren könnten, damit er das Paket zurückbringt.“
„Wir schließen in einer Viertelstunde.“ Die Verkäuferin sieht auf die Uhr an ihrem Handgelenk. „Weniger als das sogar. Wenn Sie möchten, notiere ich Ihre Nummer und frage den Kunden, ob er einverstanden ist, Sie anzurufen, um die Übergabe zu vereinbaren.“
Komplizierter als notwendig, aber ich nicke und gebe ihr meine Nummer. Dann sehe ich ihr zu, wie sie den Anruf tätigt.
Mehrere Sekunden lang horcht sie nur auf das Klingeln des Handys. Ihr Lächeln wird immer gezwungener. Meine Hoffnung schwindet. Was soll ich tun, wenn sie den nicht ganz so unbekannten Fremden nicht erreicht und sich weigert, mir seine Daten zu geben, damit ich selbst mit ihm Kontakt aufnehmen kann?
„Herr Gruber?“ Die Verkäuferin hebt die Augenbrauen und nickt mir zu. „Wie schön, dass ich Sie erreiche. Wir haben hier ein kleines Problem. Das Paket, das ich Ihnen mitgegeben habe … Es ist eine Verwechslung passier. Sie haben das Geschenk der Kundin vor Ihnen. … Ja, genau. Die nette Dame mit den langen, braunen Haaren. … Sie befindet sich gerade bei uns im Laden. Könnten Sie vielleicht vorbeikommen? … Das tut mir leid. Ich wünsche Ihnen viel Spaß.“
Nein! Kein Spaß! Er soll sich nicht irgendwo anders amüsieren. Er soll sich auf den Weg hierher machen und mit mir … also das Geschenk austauschen.
„Morgen?“, fährt die Verkäuferin fort. „Morgen haben wir leider geschlossen. Vielleicht Montag?“
Das klingt gar nicht gut. „Montag ist zu spät!“, werfe ich ein. „Wenn etwas schief geht, haben wir keine Möglichkeit, den Austausch noch rechtzeitig vorzunehmen.“
„Sekunde.“ Die junge Frau drückt das Handy an ihre Brust. „Herr Gruber ist unterwegs. Er kommt erst morgen am Nachmittag zurück.“
„Kein Problem. Fragen Sie ihn, ob wir uns treffen können. Ich fahre, wohin immer er vorschlägt.“
Die Verkäuferin runzelt die Stirn, hebt das Handy aber wieder an ihr Ohr. „Die Dame würde sich gerne morgen mit Ihnen verabreden. Der Ort ist egal. … Natürlich. Ich notiere mir die Adresse. … Ich verrate Ihnen die Handynummer der Dame. Wenn Sie einverstanden sind, gebe ich zur Sicherheit noch Ihre Nummer weiter. … Nein, nein, Sie haben den richtigen Betrag bezahlt. Lediglich die Pakete wurden vertauscht. … Sie lagen direkt nebeneinander. Da es sich um die einzigen vorreservierten Pakete handelt, hat die andere Kunden mit Sicherheit den Artikel, den Sie bestellt haben.“
Weshalb habe ich diese Fragen nicht gestellt? Sobald ich gehört habe, dass er mein Paket hat, war mein Verstand nur noch darauf fokussiert, ihn wiederzusehen. Zum Glück hatte er die Details geklärt. Nicht dass ich dann dennoch mit dem falschen Geschenk zu meiner Schwester zurückkehren würde.
„Sehr schön. Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Ausflug und einen schönen Abend. Wiederhören.“ Die Verkäuferin legt das Telefon weg. „Jetzt sollte Sie gleich eine Nachricht von ihm bekommen, um einen Zahlendreher auszuschließen.“
Tatsächlich vibriert mein Handy. Ich werfe einen Blick darauf und spüre, wie es beim Lesen in meinem Magen zu kribbeln beginnt.
„Wie schön, dass unser Date doch noch klappt. Tom“
<3 <3 <3
Er hat unsere Verabredung zum Austausch der Pakete ein Date genannt. Wie kann er mir so etwas antun? Wie kann er mich in so ein Gefühlschaos stürzen?
Ratlos stehe ich vor meinem Kleiderschrank und weiß nicht, was ich anziehen soll. Es ist nicht sonderlich kalt, also kann ich auch in ein Kleid schlüpfen. Unter meinem Mantel wird man nicht allzu viel davon erkennen können, trotzdem möchte ich, dass er mich hübsch findet.
Es geht nur um ein vertauschtes Geschenk. Warum mache ich mir überhaupt Gedanken darum, was er von mir und meinem Aussehen hält?
Weil er es ein Date genannt hat. Tom trägt Schuld daran, dass ich überlege, ob ich ihn noch auf einen Kaffee einladen soll. Er nimmt sich extra an einem Sonntag Zeit für mich. Dafür sollte ich mich erkenntlich zeigen. Ich weiß nicht, welche Art von Treffpunkt er gewählt hat. Nach meiner Googlesuche nehme ich an, dass es sich um einen Glühweinstand oder irgendeinen anderen Verkaufsstand handelt. Anders kann ich mir nicht erklären, weshalb er mich zu diesem Platz nahe der Stadtmitte kommen lässt.
Meiner Recherche zufolge gibt es ein Kaffee und ein Restaurant gar nicht allzu weit entfernt. Vielleicht können wir uns in eines davon setzen und uns ein wenig unterhalten, wenn er Zeit hat.
Als ich meiner Schwester von den vertauschten Paketen erzählt hat, ist sie ganz panisch geworden. Für sie geht es natürlich nur darum, ob es ihr gelingt, Lolos Wunsch zu erfüllen. Doch für mich ist die Sache inzwischen noch wichtiger geworden.
Mein Handy zeigt mit einem Bing das Eintreffen einer neuen Nachricht an.
„Endlich fast daheim. Nicht mehr lange, dann sehen wir uns. Darauf freue ich mich schon.“
„Ich mich auch“, antworte ich ihm und spüre, wie meine Wangen sich erhitzen.
„Verrätst du mir jetzt endlich deinen Namen?“
Nervös beiße ich mir auf die Unterlippe und überwinde mich. „Nicole.“
„Ein schöner Name. Er passt zu dir.“
Mein Herz klopft schneller. „Du siehst auch aus wie ein Tom, Herr Anwalt.“
Ich lege das Handy weg, um in ein cremefarbenes Kleid zu schlüpfen. Obwohl Tom sofort antwortet, lasse ich mir mit dem Lesen der Nachricht Zeit. Während des Autofahrens sollte er ohnehin nicht so oft auf das Handy sehen. Außerdem brauche ich ein wenig Zeit, um meine Haare zu frisieren und mich zu schminken. Dann erst kümmere ich mich um seine Mitteilung.
„Woher weißt du, dass ich Anwalt bin? Ich bin jetzt übrigens angekommen. Jetzt heißt es nur noch den Baum vom Auto zu holen.“
Tom hat mir ein Foto von dem Baum gezeigt, den er fällen will und für den er extra in den Wald gefahren ist. Ich verstehe nicht, warum er den Baum nicht einfach kauft. Trotzdem hat es etwas Romantisches.
„Deine Fachlektüre“, antworte ich. „Eine Kanzlei befindet sich direkt an der Ecke des Gebäudes, bei dem ich immer die Straße überquere. Überanstreng dich nicht.“
Nachdem ich die Nachricht geschickt habe, bin ich mir nicht mehr sicher, ob mein letzter Kommentar nach einer Erklärung verlangt. „Sonst kannst du dich nach Weihnachten nicht mehr um deine Kunden kümmern.“
Ich suche meine Sachen zusammen, packe das Geschenk oben auf meine Tasche. Wenn ich jetzt aufbreche, bin ich ein paar Minuten zu früh dran. Doch ich will ihn nicht warten lassen.
Gestern habe ich ihm geantwortet, dass ich hoffe, dass er eine schöne Reise hat. Seitdem haben wir mehrere Nachrichten ausgetauscht. Es ist so viel leichter, ihm zu schreiben, als mit ihm zu reden. Möglicherweise klingt es verrückt, doch ich habe das Gefühl, ihn auf diese Art schnell kennengelernt zu haben.
„Da hat sich aber jemand Gedanken über mich gemacht“, schreibt er zurück. „Ich gebe schon acht. Schlimmer wäre, wenn ein Hexenschuss mich daran hindern würde, dich zu treffen. Schließlich möchte ich auch wissen, was du beruflich machst. So leicht hast du es mir mit deinen Outfits nämlich nicht gemacht.“
„Ich erzähle es dir gleich persönlich. Du musst nur wissen …“ Mein Finger schwebt über der Tastatur. Wie soll ich ihm erklären, dass ich schüchtern bin, wenn ich von Angesicht zu Angesicht mit jemandem zu tun habe, den ich noch nicht oft getroffen habe? Vielleicht bringe ich kein vernünftiges Wort über die Lippen. Was, wenn er mich für verrückt hält, weil ich bei unserem Treffen ganz anders wirke als in meinen Nachrichten?
Bevor ich meinen Text fertiggetippt habe, erscheint eine neue Mitteilung. „Keine Sorge. Ich werde geduldig sein. Wenn du mir nicht zu viel über dich verraten willst, habe ich Verständnis dafür.“
Ich schicke die eineinhalb Sätze ab, die ich bereits geschrieben habe. Er hat verdient, die Wahrheit zu erfahren.
„Beim direkten Kontakt mit Menschen habe ich Schwierigkeiten“, gestehe ich weiter. „Es macht mir Angst, mich mit ihnen zu unterhalten, weil ich nie weiß, was ich sagen soll. Ich fühle mich in der Gesellschaft von Fremden unwohl. Vielleicht schaffe ich es nicht, einen geraden Satz herauszubringen, wenn wir uns gleich treffen. Dann wird das ein ganz kurzes Date.“
Mein Magen benimmt sich bockig, als würde ich Achterbahn fahren. Angespannt warte ich auf seine Antwort. Ob es ihm jetzt lieber ist, wenn wir einfach nur die Pakete tauschen und dann wieder unserer Wege gehen?
Seine Antwort trifft ein. „Wir sind doch keine Fremden mehr, oder? Und ich bin bekannt dafür, für zwei zu reden.“
„Danke. Bis gleich.“ Mehr muss ich nicht tippen.
Lächelnd schlüpfe ich in meinen Mantel und greife nach meiner Tasche, bevor ich die Wohnung verlasse.
Der Weg bis zu dem Platz, an dem wir uns treffen wollen, ist nicht lange. Als ich meinen Wagen in der Nähe parke, kann ich einen ersten Blick auf die gepflasterte Fläche werfen. Ich sehe weder Glühwein- noch Würstelstände. Da ist nichts als ein Brunnen, aus dem das Wasser ausgelassen worden ist. Rund um den Platz erheben sich mehrere Wohngebäude. Tom scheint noch nicht angekommen zu sein.
Zu Fuß lege ich das letzte Stück zurück und drehe mich dann etwas ratlos im Kreis. Der Platz wird lediglich von zwei Straßenlaternen beleuchtet. Es sind überraschend wenig Geräusche zu hören. Ich lehne mich an den Brunnenrand, weil ich von dem aus einen guten Überblick habe. Nur Sekunden später höre ich das Öffnen einer Tür und schnell näherkommende Schritte. Als ich mich umdrehe, entdecke ich endlich Tom, der ohne Jacke auf mich zueilt. Er hat das Paket in der Hand und strahlt über das ganze Gesicht.
Mein Herz hüpft. Ich gehe ihm ein paar Schritte entgegen. „Hier gibt es kein Lokal“, sage ich statt einer Begrüßung.
Er lacht. „Stimmt. Ich wohne in dem Haus dort. Willst du mit reinkommen?“
Ich blinzle und schüttle dann den Kopf.
„Sollen wir uns in das Lokal da vorne setzen?“, schlägt er vor. „Dort bekommen wir einen Tee und müssen nicht frieren.“
Diesmal nicke ich und gehe neben ihm her zum Eingang.
„Ein Glück, dass du bemerkt hast, dass die Pakete vertauscht waren.“ Er öffnet mir die Tür und lässt mich vor in das Licht und die Wärme. „So erspare ich mir Drama unter dem Christbaum und kann dich näher kennenlernen.“
Ich lächle nur. Wir suchen uns einen Tisch. Der Kellner begrüßt Tom mit Namen und wir bestellen zwei Tassen Tee.
Tom lächelt mich über den Tisch hinweg an. „Ich würde ja furchtbar gerne mehr über dich erfahren“, gibt er zu. „Allerdings bin ich mir unsicher, wie viel du mir verraten willst. Du musst mir sagen, wenn ich zu neugierig bin.“
Mit einem Nicken antworte ich.
„Arbeitest du in der Steuerberatungskanzlei?“
Noch einmal nicke ich, diesmal überrascht. „Hast du das geraten?“
„Das passt einfach am besten zu dir. Als ich dich das erste Mal an der Ampel gesehen habe, hätte ich dich gerne sofort angesprochen. Doch du hattest es so eilig. Ehrlich gesagt hat mir auch ein wenig der Mut gefehlt. Dir zuzuzwinkern hat mich Überwindung gekostet. Nach dem Schock auf deinem Gesicht dachte ich, ich wäre zu weit gegangen.“
„Nein, es ist nur …“ Mir fehlen die Worte.
Tom greift in seine Hosentasche und holt sein Handy hervor. Ruft er mir ein Taxi, und schickt mich nach Hause, weil ich nicht in der Lage bin, mich vernünftig mit ihm zu unterhalten?
„Das Paket. Können wir die Pakete vorher noch austauschen?“
Mein Handy brummt in meiner Handtasche. Tom lächelt mich an und deutet darauf. „Du solltest nachsehen, ob es etwas Wichtiges ist.“
Irritiert hole ich das Handy hervor und werfe einen Blick in meine Nachrichten. Eine Mitteilung von Tom. Überrascht sehe ich in sein attraktives Gesicht, bevor ich den Text lese.
„Habe ich dir damals Angst eingejagt?“, steht da.
Ich tippe schnell eine Antwort. „Nein. Zu gerne hätte ich mich mit dir unterhalten. Doch als du mir zugezwinkert hast, war ich völlig eingeschüchtert. Tut mir leid, dass ich dich damit vor den Kopf gestoßen habe.“
Tom sendet sofort eine weitere Nachricht. „Es tut mir leid, dass ich dir damit zu nahe getreten bin. Ich verspreche, mir ab jetzt mehr Gedanken zu machen.“
„Das musst du nicht. Ich bin froh, dass du Interesse an mir hast. Ich wünschte, ich hätte darauf reagieren können, wie du es verdient hättest. Möglicherweise sollten wir es an unserem nächsten gemeinsamen Arbeitstag noch einmal probieren. Ich verspreche auch, dir zurückzuzwinkern.“
Er lacht auf, was das Paar am Nebentisch dazu bringt, uns neugierig zu mustern. Bestimmt wirkt es seltsam, dass wir beide hier sitzen und auf unsere Handys starren.
„Vielleicht können wir bei unserer nächsten Begegnung auch schon miteinander reden“, steht in Toms nächster Nachricht. „Unter Umständen benötigen wir keine vertauschten Geschenke, um ins Gespräch zu kommen.“
„Das wäre schön. Auch wenn ich fürchte, genauso wenig ein Wort herauszubringen wie gerade eben.“
„Auch kein Problem, Nicole. Ich habe deine wunderschöne Stimme ja jetzt gehört. Wenn ich deine Mitteilungen lese, kann ich mir ab jetzt vormachen, du würdest mit mir reden.“
„Du weißt, dass du mehr Verständnis aufbringst als die meisten Menschen? Bist du dir trotzdem sicher, dich auf diese komplizierte Art von Freundschaft einlassen zu wollen?“
„An eine Freundschaft habe ich eigentlich nicht gedacht“, antwortet Tom.
Mein Puls beschleunigt sich. Ich spüre, wie Hitze in mein Gesicht steigt. Das hier ist zu gut, um wahr zu sein. Ich kann nicht glauben, dass sich ein Mann wie Tom tatsächlich für mich interessiert.
Der Kellner kommt an unseren Tisch und stellt zwei Tassen Tee vor uns ab. „Kann ich noch etwas bringen? Etwas zu essen, Kuchen, ein Ladekabel?“
Tom lacht. „Möglicherweise benötigen wir das später noch. Aber im Moment kommen wir auch so zurecht. Nicht wahr, Nicole?“
„Fragen Sie uns einfach in zwei Stunden noch mal“, antworte ich. Keine Ahnung, woher ich den Mut nehme, damit anzubieten, den Abend noch zu verlängern. Ich sehe in Toms Augen und hoffe, er hat nichts anderes mehr vor. Möglicherweise hat er Wichtigeres zu tun, als einer Verrückten gegenüberzusitzen und sich über Nachrichten mit ihr auszutauschen.
Bei seinem Lächeln rast mein Herz noch schneller. „Zwei Stunden klingt gut. Vielleicht haben wir dann auch Lust auf eine zweite Runde Tee.“
Gerne würde ich direkt mit ihm sprechen. Doch ich vertraue meiner Stimme noch nicht ganz. Die nächsten Mitteilungen schicke ich ihm also wieder über das Handy. Wir erzählen uns gegenseitig über unser Leben. Tatsächlich unterhalten wir uns fast eine Stunde, ohne dass es zu einer längeren Pause kommt.
Schließlich unterbricht uns der Kellner. „Tut mir leid. Wir schließen jetzt.“
„Dann müssen wir uns wohl einen anderen ruhigen Platz suchen“, sagt Tom. Er bezahlt unseren Tee.
Unschlüssig sehe ich mich um, als wir vor die Tür treten. Eigentlich sollte ich mich jetzt auf den Weg nach Hause machen. Wir haben die Pakete ausgetauscht, was der Grund für unser Treffen war. Wir haben mehr Zeit miteinander verbracht, als ich erwartet habe. Einen Tag vor Weihnachten will er bestimmt noch seinen Christbaum aufputzen.
„Ich sollte dann mal …“, murmle ich.
„Wollen wir nicht noch ein wenig spazieren gehen?“, schlägt Tom gleichzeitig vor.
Lächelnd betrachte ich ihn. „Du hast keine Jacke dabei.“
„Das können wir ändern.“
Wir gehen auf das Haus zu, in dem er wohnt. Tom verschwindet im Inneren. Ich bin froh, dass er nicht vorgeschlagen hat, dass ich ihn begleiten solle. Lieber setze ich mich auf die Stufen vor seiner Wohnung und warte auf ihn.
Er kehrt mit einer Jacke zurück. Außerdem hat er eine Decke auf dem Arm. Die legt er mir um die Schultern, nimmt dann neben mir Platz.
„Eine wunderschöne Ecke der Stadt, in der du wohnst“, sage ich. „Dieser Brunnen ist niedlich.“
„Im Sommer wirkt er viel eindrucksvoller. Ich habe schon vorgeschlagen, das Wasser nicht abzupumpen, damit man darauf eislaufen kann. Leider fand außer mir niemand diese Idee gut.“
Leise lache ich auf. „Verstehe ich nicht. Es muss doch furchtbar romantisch sein, auf dem beengten Platz gemeinsam herumzurutschen. Da ist so wenig Platz, dass man sich ganz eng zusammenkuscheln muss.“
„So, meinst du?“ Er rückt näher.
Wieder erhitzt sich mein Gesicht. In seiner Nähe leide ich offensichtlich permanent unter erhöhter Temperatur.
Tom streckt den Arm aus und greift nach meiner Hand. Zärtlich verschränkt er seine Finger mit meinen und beobachtet dabei genau meine Reaktion.
Obwohl mir die Nähe zu anderen Menschen leicht zu viel wird, möchte ich nicht, dass er mich wieder loslässt. Das hier ist etwas Besonderes. Mein Herz spielt total verrückt. Meine üblichen Panikanfälle verpassen ihren Einsatz. Mein Verstand trickst mich aus und tut so, als würden wir uns schon ewig kennen. Und eigentlich stimmt das ja auch. Selbst wenn wir kein Wort miteinander gewechselt haben, ist er schon seit Monaten Teil meines Lebens. Das, was ich von ihm heute erfahren hatte, passt perfekt zu meinem Bild von ihm. Er ist genau so, wie ich ihn mir erträumt hatte.
Deshalb weiche ich auch nicht zurück, als sich sein Gesicht meinem langsam nähert.
Er will mich küssen!
Noch habe ich meine üblichen Abwehrreaktionen nicht abgelegt. Ein Teil von mir drängt mich dazu, es langsam angehen zu lassen und ihm nicht zu erlauben, mir so nahe zu kommen. Doch ich will, dass er mich küsst. Ich will endlich wissen, wie es ist, wenn man von jemandem geliebt wird. Nach vielen einsamen Jahren hätte ich gerne eine Beziehung. Dazu muss ich über einen Schatten springen. Ich denke, in diesem Fall könnte das gar nicht mal so unangenehm sein.
Toms Lippen berühren meine. Flatternd schließen sich meine Augen. Ich spüre, wie er näher an mich rückt. Seine Hand legt sich an meine Wange. Doch er bewegt seine Lippen nur ganz sanft. Diese Vorsicht macht mich ganz kribbelig. Sie erlaubt mir, mich aus meiner Komfortzone zu bewegen und wagemutig zu sein. Es kostet mich dennoch ein wenig Überwindung, nicht nur still dazusitzen.
Ich hebe meine Arme, ringe noch einmal mit mir und lege sie dann einfach um seinen Hals. Als wäre gar nichts dabei.
„Darf ich kurz stören?“, fragt eine fremde Stimme.
Ausgerechnet jetzt? Ich unterbreche den Kuss und sehe hinter mich. Da steht ein ungefähr fünfzehnjähriger Junge und sieht missbilligend auf uns runter. Vermutlich will er das Haus verlassen, und Tom und ich sind ihm im Weg.
„Entschuldige“, murmle ich und rutsche zur Seite.
Der Junge macht keine Anstalten, die Stufen runterzulaufen. Er fixiert Tom. „Kommst du, Papa? Mama will wissen, wo du die Girlanden hingeräumt hast.“
Papa? Mama? Tom hat einen Sohn? Ich springe auf und stolpere entsetzt zurück. Keine Ahnung, was ich dachte, für wen das Geschenk wäre. Tom trägt keinen Ehering. Ich habe also keine Überlegungen angestellt. Jetzt komme ich mir ziemlich dämlich vor.
Tom ist Vater und Ehemann.
Viele Männer haben ihre Eheringe in einer Schublade liegen. Manche flirten auch mit Frauen, obwohl sie eine daheimsitzen haben. Ich hätte vorsichtiger sein sollen, mir keine Hoffnungen erlauben dürfen, bevor ich seine Familienverhältnisse geklärt habe. Wie naiv von mir. Wie leichtsinnig.
Tom steht auf. „Ich komme gleich, Kleiner“, sagt er in die Richtung seines Sohnes. Dann wendet er sich mir zu. „Es ist nicht so, wie es aussieht.“
„Ich will kein Wort hören. Mir ist das Ganze peinlich genug.“ Ich laufe los und sehe nicht mehr zurück. Das Paket drücke ich eng an mich. Was für ein Albtraum!
„Warte, Nicole. Lass es mich erklären.“
Tränen steigen mir in die Augen. Hinter mir erklingen seine Schritte. Warum lässt er mich nicht in Ruhe meine Wunden lecken? Muss er mich weiter leiden lassen?
„Bitte, bleib stehen“, ruft er mir nach. „Ich weiß, was du denkst, aber so ist es nicht. Glaubst du wirklich, ich würde dich auf den Stufen vor meiner Wohnung küssen, während drinnen mein Sohn und meine Frau auf mich warten?“
Obwohl mein Herz schmerzt, halte ich an. Tatsächlich überrascht es mich, dass er mich hierherbestellt hat, wenn er mich genauso gut hätte irgendwohin lotsen können, wo ich seinem Sohn nicht über den Weg gelaufen wäre. Er hätte sich auch in einem Lokal weit entfernt von hier an mich ranmachen können. Möglicherweise sollte ich mir anhören, was er zu sagen hat.
„Leg los“, sage ich, ohne mich umzudrehen.
Seine Schritte halten hinter mir an. Tom berührt meine Schulter, doch ich schüttle ihn ab. Er geht um mich herum, bis er mir ins Gesicht sehen kann. Ich senke den Blick.
„Das zwischen uns beiden ist echt“, behauptet er. „Das gerade war mein Sohn. Aber mit seiner Mutter bin ich nicht mehr verheiratet.“
„Seid ihr geschieden?“, frage ich nach.
Er nickt. „Schon seit zwei Jahren. Wir leben noch länger getrennt. Nur die Weihnachtsfeiertage verbringen wir zusammen, obwohl ich glaube, Simon legt nicht mehr lange Wert auf diese Tradition.“
Ich sehe zum Haus zurück. Toms Sohn ist inzwischen wieder im Gebäude verschwunden. „Was muss er jetzt über mich denken?“
„Meine Ex und Simon wissen Bescheid.“
„Worüber?“ Verwirrt suche ich Toms Blick.
„Dass ich mich mit dir treffe. Was der vordergründige Grund für dieses Date ist. Aber auch, warum ich mich so gefreut habe, von dir zu hören. Ich habe ihnen von dir erzählt.“
„Wieso?“
Er lächelt. „Die beiden versuchen schon eine Weile, mich dazu zu überreden, mit jemandem auszugehen. Meine Ex hat längst einen neuen Freund.“
„Ich bin verwirrt.“
„Das kann ich mir vorstellen. Gib mir noch eine Chance, Nicole. Lass mich dir meine Familie vorstellen. Ich habe mich in dich verliebt.“
Panik überschwemmt meine Sinne. So etwas kann er doch nicht zu mir sagen und glauben, ich würde nicht durchdrehen. Mein Fluchtreflex ist nur schwer zu bekämpfen. Ich habe Schwierigkeiten damit, gleichmäßig weiterzuatmen. Meine Sicht verschwimmt. Schwindel macht jeden vernünftigen Gedanken unmöglich. Ich schwanke, vertraue meinen Beinen nicht mehr.
Zum Glück hält Tom mich fest. Er nimmt mich in den Arm, streicht beruhigend über meinen Rücken. „Alles in Ordnung. Atme, Nicole. Es tut mir leid, dass ich dich überfallen habe. Wenn es zu viel war, vergiss es einfach wieder. Wir müssen nichts überstürzen. Ich gedulde mich, bis du so weit bist. Einfach ein Date nach dem anderen.“
Seine Stimme beruhigt mich ein wenig. Das Schwindelgefühl lässt langsam nach. Endlich kann ich sein Gesicht erkennen.
„Danke“, flüstere ich. „Ein Date nach dem anderen. Ganz langsam.“
Ich bin so unglaublich froh, dass er nicht mehr mit seiner Frau verheiratet ist. Möglicherweise ist das gemein, da die beiden ein Kind miteinander haben. Sein Sohn wünscht sich höchstwahrscheinlich, dass seine Eltern sich wieder versöhnen. Bestimmt tut es Tom weh, sein Kind nicht immer um sich haben zu können. Besonders zu Weihnachten muss er seinen Jungen vermissen. Darum ist es nicht fair, dankbar für die Trennung zu sein.
Doch das bedeutet, dass wir eine Chance haben. Ich kann ohne schlechtes Gewissen in den Tiefen der Augen dieses besonderen Menschen versinken.
„Ich habe mich ebenfalls in dich verliebt“, gestehe ich.
Sein Griff wird fester. Mein Herz klopft so schnell, dass mir wieder schwindelig wird. Vielleicht trägt auch seine Nähe Schuld an meinen wackeligen Knien. Eine seine Hände streicht über meine Wange. Dann senkt er den Kopf und küsst mich.
Seine Lippen liegen ganz sanft auf meinen. Ich weiß, dass er mir die Kontrolle überlässt. Ein Zeichen von mir, und er würde mich freigeben und ohne zu zögern gehen lassen. Er ist der erste Mann, der mich versteht und bereit ist, Geduld mit mir aufzubringen. Langsam lege ich ihm die Arme um den Hals und vertiefe den Kuss.
Ein Weihnachtswunder hat uns zusammengeführt. Zwei falsche Pakete sind notwendig gewesen, um den Mann, von dem ich seit einer kleinen Ewigkeit schwärme, in mein Leben stolpern zu lassen. In diesem Moment könnten wir auch mitten auf einer Kreuzung stehen, während die Welt um uns stehen bleibt. Genauso wie ich es mir erträumt habe. Das Weihnachtsgeschenkechaos hat mich herausgefordert, mich meinen Schwächen zu stellen. Ich habe dadurch etwas über mich gelernt. Und jetzt bin ich bereit, weiter an mir zu arbeiten, damit ich mit Tom eine gemeinsame Zukunft aufbauen kann. Noch einmal hilft mir das Schicksal nicht mehr. Noch einmal braucht es keine vertauschten Pakete, damit ich mein Glück finde.
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