„Eine mutige Lady“ von Bailey Kinlay

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Ein Verbrechen, mangelnde Beweise und verlorene Erinnerungen – Regency

„Eine mutige Lady“ von Bailey Kinlay

Londons Gesellschaft ist in Aufruhr. Miss Weaverly beschuldigt den Earl of Coolridge des Mordes! Die junge Lady hat ihre Erinnerung an den Vorfall allerdings verloren und es erscheint unmöglich, die Vorfälle im Wald zu rekonstruieren. Doch was haben die Kampfspuren dann zu bedeuten?
Mr Jonas zweifelt nicht daran, dass sein Bruder unschuldig ist, und will das unter allen Umständen beweisen. Er muss herausfinden, was genau geschehen ist. Aber Miss Weaverly ist die einzige Zeugin und alle Versuche, ihre Erinnerung zurückzuholen, wecken finstere Ängste in der jungen Frau. Die Konsequenzen spielen für Mr Jonas keine Rolle: Die Wahrheit muss ans Licht kommen. Miss Weaverly hilft ihm bereitwillig, doch die Nachforschungen der beiden bergen mehr Gefahren als gedacht.

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Leseprobe

1. Kapitel
Sommer 1829
»Ihre Schlussfolgerungen zu Lester Moons Werken sind ungemein unterhaltsam, Miss Tanja.« Lord Amber lächelte glücklich.
Mit einem Schritt nach vorne versuchte Lord Sanders Aufmerksamkeit zu erregen. »Ich würde vielmehr sagen, Ihre Ausführungen sind scharfsinnig und informativ. Zu gern unterhielte ich mich ausgiebig und ungestört mit Ihnen darüber.«
Tanja legte den Kopf schief. »Diesen Wunsch kann ich nachvollziehen. Allerdings fürchte ich, dass meine Mutter ihn nicht gutheißen wird. Vielleicht beschränken wir uns lieber darauf, uns bei diesem zufälligen Zusammentreffen über den Autor zu unterhalten.
Nur schwer gelang es Sophie, die Augen nicht sichtbar zu verdrehen. Ihre knapp zwei Jahre jüngere Schwester versuchte ständig, jeden Gentleman um den Finger zu wickeln. Dass sie sich dafür Formulierungen in Zeitungsartikeln eingeprägt hatte, war jedoch ein Mehraufwand, den sie nur selten auf sich nahm. Die beiden würden sich bestimmt glücklich schätzen, wüssten sie davon.
Während Tanja und ihre beiden Verehrer Meinungen austauschten, schlenderten drei Gentlemen auf dem Hauptweg durch den Park näher. Die Gruppe weckte Sophies Neugier. Als sie Lord Weston erkannte, schlug ihr Herz schneller. Vielleicht erhielt sie die Gelegenheit, mit dem jungen Mann zu sprechen, den sie so ungemein interessant fand. Es hieß, er lege großes Talent für Malerei an den Tag. Außerdem interessierte er sich für Gedichte und besuchte regelmäßig die Oper. Dass er sich so viel mit Kunst und Kultur beschäftigte, beschleunigte ihren Puls beinahe genauso sehr wie sein attraktives Äußeres.
»Tanja, können wir nicht weiterspazieren?«, fragte sie ihre Schwester, ohne den Blick von dem Mann zu wenden, der sie dermaßen faszinierte.
»Ich unterhalte mich noch«, erinnerte Tanja sie.
Lord Weston plauderte ebenfalls angeregt mit seinen Begleitern. Als sie an Sophies Gruppe vorbeikamen, nickte er ihnen schlicht zu, während er sich weiter auf sein Gespräch konzentrierte.
Enttäuschung machte sich in Sophie breit. So gar nicht von ihm beachtet zu werden, schmerzte sie ungemein.
»Möglicherweise wollen die beiden Gentlemen uns auf unserem Weg durch den Park begleiten?«, schlug Sophie ihrer Schwester vor. Ihr Blick folgte Lord Weston, der sich bereits entfernte. Wenn sie sich nicht bald in Bewegung setzten, würden sie ihn nicht mehr einholen können.
»Wir können auch hier noch einen Moment das schöne Wetter genießen.« Tanja klang ungeduldig. Sie schickte einen vielsagenden Blick zu Sophie und schenkte ihren Verehrern ein Lächeln, bevor sie sich weiter mit den beiden unterhielt.
Mit schwerem Herzen sah Sophie zu, wie Lord Weston aus ihrem Blickfeld verschwand. Wie sollte sie jemals seine Aufmerksamkeit erregen, wenn sie nie mehr als eine knappe Begrüßung austauschten?
Sehnsüchtig sah sie zu dem kleinen Hügel, der sich in der Nähe befand. Von der Anhöhe aus hatte man einen wundervollen Ausblick auf den Park. Dieser Aussichtspunkt war der Grund, weshalb Sophie ihre Schwester um den Ausflug gebeten hatte. Jetzt musste sie hier ausharren, damit Tanja ungestört mit diesen jungen Männern flirten konnte.
Ob die drei ihr Gespräch so bald beenden würden? Die beiden Herren sahen nicht so aus, als würde ihre Begeisterung von Tanja bald nachlassen. Auch die Zofe, die sich etwas abseits hielt, wirkte gelangweilt.
Wie sehr Sophie es hasste, nur als unscheinbare Begleiterin ausgenutzt zu werden! Wenn sich wenigstens einer der Männer mit ihr unterhalten würde! Sie mochte es nicht, Zeit mit unnützen Dingen zu verschwenden. Lieber wäre sie ihrer eigenen Schwärmerei für Lord Weston nachgegangen. Dafür, dass Tanja an keinem der beiden Gentlemen interessiert war, beschäftigte sie sich schon viel zu lange mit ihnen. Sie hatte doch schon genug Verehrer, die sie allesamt um sich herumscharwenzeln ließ, ohne sich für einen von ihnen zu entscheiden!
Gelangweilt seufzte Sophie und sah wieder sehnsüchtig zum Hügel hinauf. Vielleicht könnte sie ein paar Schritte darauf zumachen. Tanja würde sich dadurch hoffentlich dazu bringen lassen, ihre Unterhaltung zu beenden.
Nachdem sie vergeblich versucht hatte, sowohl mit ihrer Schwester als auch mit der Zofe Blickkontakt aufzunehmen, schlenderte Sophie einfach los. Der Anstieg war nicht steil und sie war gut zu erkennen. Sie würden sie nicht suchen müssen.
Auf der Hälfte des Weges nach oben drehte sie sich um. Tanja lachte gerade laut über einen Kommentar ihrer Verehrer, die nichts anderes um sich herum wahrnahmen. Die Zofe blickte demonstrativ in die andere Richtung.
Bei einer Befragung von Lady Heating wollte sie vermutlich nicht von der kleinen Flirterei erzählen müssen. Sophies Mutter kannte ihre Töchter genau und wusste, wie sich ein Zusammentreffen von Tanja mit einem Gentleman ohne ihre Aufsicht zu einem unangemessen langen Plausch entwickeln konnte.
Sophie verspürte nicht das Bedürfnis, sich mit zahllosen Verehrern zu unterhalten. Viel lieber wäre es ihr, wenn sich der eine Gentleman, auf den sie ein Auge geworfen hatte, sich endlich auch für sie interessieren würde. Im Moment wusste er nicht einmal, dass sie überhaupt existierte. Ob es einen Weg gab, diese Tatsache zu ändern?
Der Pfad wandelte sich in Stufen, die sie hinaufstieg, um die Aussichtsplattform zu erklimmen. Von dort aus betrachtete sie den weitläufigen Park mit seinen akkurat angelegten Blumenbeeten und den verschlungenen Wegen. Links stand Tanja mit ihren Verehrern, rechts begann ein Waldstück, das so dicht war, dass sich niemand freiwillig hineinverirrte. Die hohen Bäume blockierten die Sicht auf die Felder dahinter. Sophie drehte sich um, damit sie einen Blick auf den Teil des Parks werfen konnte, der sie immer wieder zu diesem Ausflug verlockte.
Vor ihr erstreckte sich ein künstlich angelegter See. Seerosen schwebten auf der Wasseroberfläche. Ein paar Blüten hatten sich geöffnet, sodass rosa- und weißfarbige Tupfen auf dem Nass verteilt waren. Die Sonne zauberte Lichtreflexe auf die kleinen Wellen, die von herumschwimmenden Enten verursacht wurden. An einem Steg waren Boote angebunden, die man für eine Fahrt auf dem See mieten konnte. Tanja war bereits mehrmals zu einem derartigen Ausflug eingeladen worden, was ihre Zofe in echte Bedrängnis gebracht hatte, weil das arme Ding Angst vor Wasser hatte. Deshalb musste meist Sophie in dem Boot Platz nehmen und ihre Schwester dabei beobachten, wie sie ihrem Begleiter schöne Augen machte.
Ein Weg führte entlang des Teiches, auf dem Lord Weston leider nicht zu entdecken war. Stattdessen wanderten verliebte Pärchen darauf herum, dicht gefolgt von den Anstandsdamen, die darauf achteten, dass ihre Schützlinge nicht, von der romantischen Stimmung angesteckt, Grenzen überschritten.
Sophie verspürte einen Anflug von Eifersucht. Sie wünschte, sie hätte ebenfalls einen Mann an ihrer Seite, der versuchte, ihr heimliche Küsse zu stehlen. Leider war sie bislang noch nicht in die Verlegenheit geraten, einen hartnäckigen Verehrer abweisen zu müssen.
Sie hatte es aufgegeben, hohe Ansprüche an einen potenziellen Ehemann zu stellen. Solange er sich ihr gegenüber freundlich verhielt und romantische Gefühle für sie entwickelte, würde sie seinem Werben nachgeben. Es wäre wundervoll, sollte Lord Weston sie irgendwann einmal bemerken und ihr den Hof machen. Gegebenenfalls würde sie sich auch mit weniger zufrieden geben. Dass sie so gar keinen Mann für sich gewinnen konnte, machte ihr allerdings zu schaffen.
Ein Schrei, der aus dem Waldstück links von ihr zu stammen schien, weckte ihre Aufmerksamkeit. Sie konnte nicht verstehen, was gerufen wurde, doch es klang nicht nach einem freudigen Aufschrei. Ein wütender Laut wurde vom leichten Wind zu ihr getragen. Anscheinend gehörte die Stimme zu einem Mann. Was für ein seltsamer Ort für eine Auseinandersetzung! Sophies Neugierde war geweckt.
Sie warf einen schnellen Blick zurück zu Tanja und der Zofe, die noch immer von den beiden Gentlemen belagert wurden. Es wirkte nicht, als hätten sie Sophies Abwesenheit bemerkt. Auch die Schreie waren von ihrem Standort aus wohl nicht zu hören.
Ob Sophie nach dem Rechten sehen sollte? Eigentlich ging sie ein Streitgespräch zwischen Männern nichts an. Aber was, wenn sich eine Frau in Schwierigkeiten befand? Bislang hatte sie nur eine männliche Stimme vernommen, doch das bedeutete nicht, dass es sich bei dem Gesprächspartner ebenfalls um einen Mann handelte. Möglicherweise hatte ein zwielichtiger Gentleman seine wehrlose Frau in diesen abgeschiedenen Teil des Parks gelotst, um ihr Leid anzutun. Wäre Sophie in einer solchen Situation, würde sie auf Hilfe hoffen.
Wieder ein Schrei. Diesmal klang der Wortfetzen noch wütender.
Sophies Herz schlug schneller. Sie winkte Tanja und der Zofe zu. Selbst wenn einer der beiden verliebten Gentlemen sie bemerken würde, wäre es besser, als einfach loszulaufen. Leider achtete niemand auf Sophie. Sogar als sie laut den Namen ihrer Schwester rief, reagierte diese nicht.
Aus dem Waldstück war ein Schrei zu hören, den Sophie nicht einordnen konnte. Ihre Sorge wuchs.
Noch einmal rief Sophie nach ihrer Schwester, ohne von ihr bemerkt zu werden. Sie durfte nicht noch mehr Zeit verlieren. Möglicherweise zählte gerade jede Minute.
Sophie lief los. Auf dieser Seite des Hügels befand sich kein Weg hinab, weshalb sie schon nach den ersten Schritten durch hohes Gras stolperte. Sie raffte ihre Röcke und setzte den Abstieg etwas langsamer fort. Vorsichtig positionierte sie die rutschige Sohle ihrer Schuhe auf dem steilen Untergrund. Ein Glück, dass der Weg nach unten nicht lang war. Nur eine Minute später erreichte sie den Waldrand und überlegte, auf welche Weise sie sich am besten durch das Unterholz bewegen sollte. Ein paar dichte Büsche versperrten ihr die Sicht. Sie ging weiter, bis sie eine Lücke zwischen den Sträuchern entdeckte. Ein Ast blieb an ihrem Ärmel hängen. Umständlich befreite sie sich, um den Stoff nicht zu zerreißen.
Die wütende Stimme war wieder zu hören. Diesmal deutlich näher als zuvor. Sie war auf dem richtigen Weg. Ihr Puls raste erneut, weshalb sie sich mit einem Ruck losriss. Sie verdrängte den Gedanken daran, dass ihre Mutter sie wegen der kaputten Kleidung tadeln würde.
Sophie hob ihre Röcke an und schob sich weiter durch die Baumstämme. Sie vernahm ein leises Gemurmel, das sie nicht eindeutig Frau oder Mann zuordnen konnte. Sie bewegte sich auf die Geräusche zu und hoffte, bald mehr Details erkennen zu können.
»Du bist ein verdammter Lügner. Tu nicht so, als wüsstest du nicht, wovon ich spreche!«, hörte Sophie plötzlich eine hasserfüllte Stimme.
Auf diese Weise würde ein Mann eher nicht mit einer Lady sprechen. Vermutlich war er mit einem anderen Gentleman in Streit geraten. Sophies Pulsschlag beruhigte sich etwas. Sollte sie unbemerkt zurückgehen? Nein, jetzt war sie schon hier, dann konnte sie auch nach dem Rechten sehen.
Mit jedem Schritt wurde klarer, dass die zweite Stimme auch zu einem Mann gehörte. Zum Glück war keine Lady in Gefahr!
Endlich nahm sie zwischen zwei Baumstämmen eine Bewegung wahr. Jemand warf die Hände in die Luft.
»Du willst es einfach nicht verstehen. Warum nimmst du mich nicht ernst?«
»So ist das nicht«, lautete die Antwort des zweiten Mannes.
Als Sophie vorsichtig nähertrat, wurde ihr Blick von einem Kleidungsstück angezogen, das ihr bekannt vorkam. Dieses flaschengrüne Jackett! Sie hatte es oft genug gesehen und von seiner Bedeutung gehört, sodass sie wusste, wen sie da gerade beobachtete. Damit ergab der Streit für sie noch weniger Sinn.
Bei dem auffälligen Kleidungsstück handelte es sich um den Glücksbringer des Earls of Coolridge. Er trug das Jackett, wenn er sich gute Karten bei einem Spiel wünschte. Stand ein wichtiger Geschäftsabschluss bevor, schlüpfte er in den grünen Rock. Seit er sich das erste Mal auf Brautschau begeben hatte, sah man ihn auf Veranstaltungen damit, bei denen er hoffte, eine bestimmte Lady zu treffen. Ganz London erkannte den Earl an dieser seltsamen, aber ihm wichtigen Modeentgleisung.
Sophie konnte sich keinen Grund vorstellen, weshalb er sich so ausstaffiert auf einen Waldspaziergang begeben hatte. Wollten die beiden Gentlemen hier Geschäftliches besprechen? Warum hatten sie sich keinen angenehmeren Ort dafür gesucht?
Obwohl sie wusste, dass das Gespräch nicht für ihre Ohren bestimmt war, konnte sie ihre Neugier nicht länger bezwingen. Sie schlich weiter vorwärts, um einen besseren Blick auf die beiden Männer werfen zu können. Noch hatte sie ihre Gesichter nicht gesehen. Die Stimmen waren ihr fremd. Sie hatte sich noch nie mit dem Earl unterhalten.
»Ich weiß, dass du auf mich herabsiehst«, behauptete einer der beiden jetzt. »Du hast eine schlechte Meinung von mir, weil dir bewusst ist, dass ich dich beneide.«
Wer von den beiden sprach gerade? Sophie glaubte, dass die Worte vom Earl of Coolridge stammten, doch das erschien ihr seltsam. Auf wen sollte ein einflussreicher Mann wie er eifersüchtig sein?
Bei ihrem nächsten Schritt knackte ein Ast unter ihren Füßen. Erschrocken duckte sie sich hinter einen Busch und hielt den Atem an. Die beiden Männer verstummten und sahen sich um. Zum Glück entdeckten sie Sophie auf ihrem Lauschposten nicht.
»Übertreib nicht«, forderte schließlich die zweite Stimme. »Ich verstehe, dass du dich im Augenblick ungerecht behandelt fühlst. Es war ein Missverständnis. Niemals hätte ich etwas getan, das für dich von Nachteil ist.«
»Warum hast du dann nicht nachgedacht, bevor du das Geschäft abgeschlossen hast?«
Sophie lugte über den Busch. Vorsichtig richtete sie sich auf und schlich noch etwas näher an die Streitenden heran. Sie war sich sicher, dass die letzten Worte von dem Mann im flaschengrünen Jackett stammten. So wie es schien, hatte sein Bekannter ihm eine Einnahmemöglichkeit weggeschnappt. Sie hätte nicht erwartet, dass der Earl sich dermaßen über eine verpasste Gelegenheit ärgern würde. Ganz London wusste, dass seine Familie nicht an Geldproblemen litt. Selbst wenn er niemals wieder geschäftlich tätig sein würde, könnten sie ein Leben in Luxus führen.
»Man hat mir eine Beteiligung angeboten«, erzählte der Bekannte des Earls of Coolridge. »Mir war nicht bewusst, dass du dich ebenfalls dafür interessierst.«
»Ich hätte dieses Geschäft gebraucht! Dafür, dass du mir auch diese Möglichkeit weggenommen hast, wirst du bezahlen.« Der Earl bewegte sich auf seinen Begleiter zu.
Sophie konnte nicht deutlich erkennen, was genau passierte. Einen Moment lang glaubte sie, etwas Metallisches in der Hand des Earls aufblitzen zu sehen. Dann stieß Coolridge den Gegenstand nach vorne. Der Bekannte des Earls schrie auf und fasste sich an den Bauch. Der Earl trat wieder zurück, sodass Sophie einen Blick auf den anderen werfen konnte. Eine rote Flüssigkeit tränkte die Weste des Mannes, quoll zwischen seinen Fingern hervor, die ein Messer umfassten, und tropfte zu Boden.
Blut!
Der Earl hatte mit einem Messer zugestochen!
Entsetzt stolperte Sophie zurück. Ein Schrei kam über ihre Lippen, bevor sie ihre Hand darauf pressen konnte. Sie fasste es nicht, der Earl of Coolridge hatte einen Mordversuch verübt.
Der Earl sah in ihre Richtung, während der andere Mann auf die Knie fiel, stöhnte und zur Seite kippte.
Ohne ihn zu beachten, kam der Earl auf Sophie zu. Er hatte sie bemerkt!
Ihr Herz raste. Angst löschte jeden vernünftigen Gedanken aus. In ihrem Kopf herrschte sinnloses Durcheinander. Auch ihr Körper reagierte nicht mehr. Von einer Sekunde auf die andere verwandelte sie sich in eine der Statuen, die sie sonst immer im Museum bewunderte.
Der Earl bog ein paar Äste zur Seite, um zu ihr zu gelangen. Er war nur noch wenige Schritte entfernt. Hinter ihm lag sein Widersacher auf dem Boden und röchelte vor Schmerzen. Wenn ihm niemand zu Hilfe kam, würde er hier mitten im Wald sterben. Jemand musste einen Arzt rufen!
Ihr wurde bewusst, dass sie ebenfalls in Gefahr war. Wenn sie weiterhin wie versteinert hinter dem Baumstamm ausharrte, würde der Earl auch sie töten. Schließlich hatte sie alles beobachtet und könnte ihn verraten.
Er würde sie nicht verschonen, nur weil es sich bei ihr um eine Frau handelte. Eine Zeugin für seine ungeheure Tat durfte er nicht am Leben lassen.
Sophie starrte dem Earl entgegen, konnte aber sein Gesicht nicht erkennen. Sie kniff sich in die Wange. Der Schmerz brachte ihren Selbsterhaltungstrieb zurück. Sie raffte ihre weiten Röcke und lief los.
Immer wieder blieb sie im dichten Unterholz hängen und musste sich erst befreien, um weiterlaufen zu können. Sie hörte die Schritte hinter sich näherkommen. Schweiß brach auf ihrer Stirn aus und der Atem brannte in ihrer Lunge. Sie war schnelles Rennen auf unwegsamem Gelände nicht gewohnt.
Die Angst ließ ihr Herz rasen. Verdammt, sie entfernte sich von ihrer Schwester, die bestimmt schon auf sie wartete. Sie änderte die Richtung und versuchte dabei, dem Earl nicht direkt in die Arme zu laufen. Ein schneller Blick zurück zeigte ihr, dass der Earl aufgeholt hatte. Er war viel zu nah. Und er hatte einen dicken Ast in der Hand.
Er durfte sie nicht erwischen, sonst …
Sie rannte noch schneller. Ihr Blick verschwamm vor Tränen. Schweiß rann ihr in die Augen.
Im letzten Moment machte sie einen Haken nach rechts, sonst wäre sie gegen einen Baum gerannt. Ihr Fuß blieb allerdings an einer frei liegenden Wurzel hängen. Sie stolperte.
Mit voller Wucht traf etwas Hartes ihren Hinterkopf.
Schmerz schoss durch sie hindurch. Ihr Körper, der gerade noch damit beschäftigt gewesen war, das Gleichgewicht zu halten, verweigerte abrupt seine Arbeit. Sie fiel auf den Boden und blieb reglos liegen. Neben ihr lag ein dicker Ast. Hatte der Earl ihn nach ihr geworfen?
Ein Stöhnen wollte sich von ihren Lippen lösen, doch sie unterdrückte den Laut. Wenn er sie für tot hielt, würde er sie hoffentlich in Ruhe lassen.
Ihr Angreifer kam näher. Sie hielt die Luft an. Er trat mit seinem Schuh nach ihr. Der Stoß war schmerzhaft, doch sie zuckte nicht zusammen und tat so, als wäre sie bewusstlos.
Noch einmal trat er zu und beinahe wäre ihr ein Schmerzenslaut entwischt.
Anscheinend zufrieden, bewegte sich der Earl von ihr weg. Sophie lauschte den Schritten, die immer leiser wurden. Erst als sie weit genug entfernt waren, wagte sie es, wieder zu atmen. Ihre Augenlider waren so schwer. Selbst wenn sie gewollt hätte, wäre sie nicht in der Lage gewesen, sie zu heben. Ihr ganzer Körper war schwer, so schwer.
Die Dunkelheit hinter ihren geschlossenen Lidern vertiefte sich, bis die kühle Schwärze zur Gänze von ihr Besitz ergreifen wollte. Hatte sie die Ohnmacht gerade noch vorgespielt, so schien sie nun Realität zu werden.
Panik flutete Sophies Adern. Sie musste dagegen ankämpfen. Sie durfte die Kontrolle über ihren Körper nicht verlieren. Unter Aufbringung ihrer letzten Kraft, öffnete sie ihre Augen ein Stück.
Das flaschengrüne Jackett bewegte sich zwischen den Bäumen. Details konnte sie allerdings nicht erkennen.
Sophie schloss die Augen, als sie sie nicht mehr offenhalten konnte. Die Dunkelheit kroch durch ihre Adern und wollte jeden Gedanken auslöschen. Nein, sie durfte nicht ohnmächtig werden. Jetzt wäre der ideale Zeitpunkt, um die Flucht anzutreten. Das grüne Jackett war vorhin aus ihrer Sichtweite verschwunden. Sie musste die Gelegenheit nutzen.
Testweise versuchte sie, ihren Arm zu bewegen. Ihre Muskeln weigerten sich, dem Befehl Folge zu leisten. Es machte keinen Sinn, um Hilfe zu rufen. Es befand sich niemand in der Nähe, und Sophie bezweifelte, dass sie genug Kraft aufbringen konnte, um laut genug zu sein.
Die drohende Ohnmacht umarmte sie sanft. Die zärtliche Berührung schenkte ihr ein Gefühl falscher Sicherheit. Vielleicht wäre es das Beste, wenn sie ihr nachgeben würde. Danach könnte sie einfach alles vergessen und sich ausruhen. Die Schmerzen würden vergehen. Die Angst würde sie nicht mehr im Klammergriff halten.
Es war eine Schande, dass sie niemals die Gründe dafür erfahren würde, weshalb sie das alles durchleiden musste. Wenn sie jetzt sterben würde, würde sie jemand finden? Oder würden ihre Mutter und Schwester für immer in Ungewissheit leben müssen?
Hinter ihren geschlossenen Augenlidern quoll eine einzelne Träne hervor. Sie spürte die Feuchtigkeit nur kurz, während die Dunkelheit sie beruhigend in den Schlaf zu wiegen versuchte.
»Sophie!« Ihr Name durchdrang den Nebel, der sich in ihr ausbreitete.
Ob die Schwärze bereits nach ihr rief? Warum der unnötige Nachdruck? Sie hatte doch bereits aufgegeben.

»Sophie! Wo bist du?« Eine Frau rief nach ihr. »Wenn du dich irgendwo versteckst, werde ich wirklich wütend! Komm sofort her, oder ich werde wirklich wütend! Nur wegen dir musste ich meine Unterhaltung mit den beiden Gentlemen unterbrechen!«
Nein, das war nicht die Dunkelheit, die sie zu sich locken wollte. Diese Stimme gehörte ihrer Schwester und Tanja war verärgert.
Das Gefühl der Benommenheit nahm noch mehr von Sophie in Besitz. Die Finsternis war beruhigend und einladend. Zu schade, dass Tanja zu spät kam. Um diese Welt noch nicht verlassen zu müssen, hätte Sophie die Strafpredigt ihrer Schwester bereitwillig über sich ergehen lassen. Nun würde sie nie mehr die Gelegenheit erhalten, sich mit Tanja zu streiten.
Sophie stieß ein lautloses Seufzen aus und ließ sich ins Nichts fallen.

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