Leseprobe
Aiden bemerkte aus den Augenwinkeln, dass Laster den Raum verließ. Je mehr Menschen den Abend über eingetrudelt waren, desto fahriger und angespannter hatte der Fotograf gewirkt. Es war nicht geplant gewesen, dass so viele Besucher in die Galerie finden würden. Anscheinend hatte einer der Fans in den sozialen Medien gepostet, dass der Starfotograf vor Ort war. Wie wenig Laster davon angetan war, konnte man deutlich sehen.
Inzwischen hatten sie oft genug zusammengearbeitet, damit Aiden mit Sicherheit sagen konnte, dass Colwood nicht unter der normalen Aufgeregtheit litt. Zwar hatten Künstler oft auch nach der zehnten Ausstellung noch mit Nervosität zu kämpfen. Maler, Fotografen und andere Kunstschaffende besaßen scheue Seelen. Das Hinterfragen ihrer eigenen Werke gehörte zu ihnen wie harte Arbeit zum Erfolg. Letztes Jahr hatte ein Bildhauer versucht, die Eröffnung abzusagen, weil der Farbton der Lampen im Ausstellungsraum angeblich nicht zu seinen Werken passen würde. Der Austausch sämtlicher Glühbirnen eine Stunde vor der Vernissage hatte ihn zum Glück beruhigt. Nein, Künstler waren selten einfache Menschen.
Beim gehetzten Ausdruck in Lasters Gesicht vermutete Aiden allerdings, dass mehr dahintersteckte. Irgendetwas machte ihm zu schaffen. Aiden wünschte, er könnte dem Fotografen helfen. Er würde Laster das nicht allein durchstehen lassen. Was auch immer er gerade durchlebte, Aiden wollte für ihn da sein.
»Würden Sie mich einen Augenblick entschuldigen?«, bat er die Frau neben sich. Die einseitige Unterhaltung mit der dauerplappernden Kundin war ohnehin nur eine Ausrede gewesen, um Laster unauffällig beobachten zu können.
Die Dame blinzelte irritiert, weil er ihr so unhöflich das Wort abschnitt. »Natürlich. Bestimmt warten wichtige Aufgaben auf Sie.«
Mit einem falschen Lächeln nickte Aiden. Zu gern würde er Lasters Wohlbefinden zu seiner Aufgabe erklären. Noch war er aber nicht sicher, ob dafür Platz genug in seinem Leben war. Das gestaltete sich auch ohne den Fotografen gerade furchtbar kompliziert.
»Ich bin sicher, Sie finden sich hier kurz allein zurecht«, sagte er und wandte sich halb ab.
»Es macht mehr Spaß, die Bilder mit Ihnen zu betrachten. Sie haben eine wundervolle Art, sie zu beschreiben.« Sie zog einen Schmollmund, was aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters ein wenig albern wirkte.
»Haben Sie schon alle Exponate begutachtet? Mit jedem weiteren Blick darauf entdeckt man etwas Neues. Das ist das, was diese Ausstellung so besonders macht.«
»Da kann ich nur zustimmen. Mir erscheint es bei jedem Besuch, als würde ich das erste Mal vor den Bildern stehen. Wissen Sie, ich wohne nicht in unmittelbarer Nähe. Dennoch komme ich in die Galerie, weil Sie immer so wundervolle Künstler ausstellen. Sie haben ein Händchen dafür, großartige Ausstellungen zu organisieren.«
»Das Lob dafür gebührt in erster Linie meinem Boss.« Auch wenn Aiden alles darangesetzt hatte, Lasters Werke ein weiteres Mal in ihrer Galerie zu präsentieren. Er bekam einfach nicht genug von diesen ausdrucksstarken Bildern. Und dem dazugehörigen Fotografen. »Tut mir leid. Ich muss jetzt wirklich los. Viel Vergnügen noch.« Er nickte ihr zu und eilte dann davon.
Eine Schiebetür führte zu den hinteren Räumen der Galerie. Aiden durchquerte das Hinterzimmer und trat dann in den Gang, von dem mehrere Türen zu seiner Rechten wegführten. Büroräumlichkeiten, Lager, eine kleine Werkstatt für Notfälle, ein Abstellraum. Eine Tür nach der anderen öffnete er, ohne eine Spur von Laster zu entdecken. Zuletzt kam er zum Ausgang, der in den Hinterhof führte. Ob der Fotograf den Notausgang verwendet hatte, um von hier zu flüchten?
Aiden stieß die Tür auf und blickte nach draußen. Dunkle Schatten huschten auf dem betonierten Platz hin und her, weil in einer der Wohnungen, die auf dieser Seite lagen, eine Party stattzufinden schien. Die laute Musik dröhnte bis zu Aiden. Ein riesiger Kirschbaum breitete seine Arme fast bis zu den Hauswänden rundherum aus. Man hatte ihn Anfang des Jahres schon einmal gestutzt. Dennoch ließ er nur wenig Mondlicht bis zum Boden durch. Nachts war dieser Innenhof Aidens Lieblingsplatz. Die Lichterkette, die einen Busch linker Hand erleuchtete und genug Helligkeit spendete, um Details zu erkennen, stammte von ihm.
Schräg gegenüber führte eine schmale Gasse auf die Straße. Ob Laster auf diesem Weg verschwunden war? Sollte Aiden ihm nachlaufen? Oder wäre es besser, den Fotografen in Ruhe zu lassen?
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