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Kurzgeschichte „Allein“ von Bettina Kiraly
Allein. So verdammt allein.
Obwohl sie von den Geräuschen der Stadt umgeben ist, Leute an ihr vorbeilaufen, man sie anrempelt … Sie fühlt sich allein.
Die Last auf ihren Schultern ist schwer, als sie die Straße entlanggeht. Mit jedem Schritt nimmt der Druck auf ihre Brust zu.
Mit müden Augen versucht sie Kontakt zu ihren Mitmenschen aufzunehmen, doch wie immer hat man es zu eilig, ist man zu unaufmerksam. Warum ihr niemand auch nur einen schönen Tag wünscht, kann sie nachvollziehen. Es fällt ihr schwer, sich mit anderen auszutauschen. Da ist immer diese unsichtbare Wand, die sie nicht überwinden kann. Dieses Gefühl von Anstrengung im Umgang mit anderen. Dieser Eindruck, anders zu sein und nicht dazu zu passen.
Sie weiß nicht mehr, wann sie gemerkt hat, dass sie nicht in die üblichen Schablonen passt. Vermutlich ist es immer schon so gewesen. Eine Isolation, die sie früh selbst gewählt hat und aus der sie sich nicht mehr befreien kann. Der erste Anflug von Panik macht sich in ihr breit.
Sie betritt eine Brücke und wird immer langsamer. Nur wenige Leute sind hier unterwegs. Mit einem Mal ist sie wieder so allein wie sonst auch. Ihr Brustkorb wird eng, lässt nicht genug Luft in ihre Lungen. Der Schmerz in ihrem Inneren nimmt zu, bis sie sich schwindelig fühlt. Ängstlich streckt sie die Hand aus, tastet blind nach etwas, das ihr Halt gibt.
Kalter Stein. Stabil und unbeweglich.
Ihre Finger krallen sich in das breite Geländer. Sie legt auch die zweite Hand darauf ab. Schwer atmend schließt sie die Augen. Es dauert, bis die Ruhe des Steins auf sie übergeht und sie endlich wieder genug Luft in ihre Lungen saugen kann.
Als sie schließlich die Augen öffnet, blickt sie auf das Wasser hinunter. Schwarz und geheimnisvoll. Verlockend mit seiner Kraft. Friede breitet sich in ihr aus. Tief unter ihr zieht der Fluss dahin. Wie es sich wohl anfühlen würde, sich diesem reißenden Gewässer anzuvertrauen?
Nein, es ist nicht der richtige Ort, um fliegen zu lernen. Hier würde sie sich während des Falls bestimmt nicht frei fühlen. Hier wird sie sich ihre Flügel nicht verdienen.
Fünf Schritte von ihr entfernt hält ein Mann in dunkler Kleidung an und sieht ebenfalls nach unten. „Wunderschön, oder?“, fragt er, den Blick auf den Fluss gerichtet.
„Perfekt. So viel Kraft und Ruhe. Unbeeindruckt und einsam.“
Er seufzt leise und wirkt beinahe so verloren, wie sie sich fühlt.
„Kennst du das auch?“, fragt sie.
„Was?“
„Dass man sich unter Menschen befindet und doch ganz allein ist?“
Der Fremde nickt. „So geht es uns allen manchmal.“
Sie zuckt mit den Achseln. „Ich weiß nicht recht. Es scheint, als würden einige von uns stärker darunter leiden. Auch wenn ich mich mit anderen treffe, dringe ich manchmal nicht zu ihnen durch. Wenn ich es schon wage, mich zu Wort zu melden, überhört man mich doch.“
„Das klingt schrecklich. Passiert das tatsächlich?“
„Oft genug. Manchmal erzähle ich jemandem etwas über mich. Zu der tiefen Schwärze in mir stoße ich gar nicht vor. Ich versuche mich daran, an der Oberfläche zu kratzen und einen winzigen Blick auf mich freizugeben.“
„Und dann?“
Ihr Herz wird eng. „Meine Worte verhallen ohne Reaktion. Ich weiß, dass ich nicht das interessanteste Wesen auf dieser Welt bin. Meine Zurückhaltung macht es schwer, mich zu ertragen. Dennoch tut es unglaublich weh.“
Der Mann hebt den Blick zu ihr. „Die Worte verhallen?“
Langsam nickt sie. „Man antwortet mir nicht, geht über mich hinweg. Sobald jemand anderes sein Inneres offenlegt, erhält er jedoch alle Aufmerksamkeit. Ich werde zur Seite gedrängt. Das kenne ich inzwischen so gut, dass ich mich nur noch selten öffne. Ich mache nur kleine Schritte nach vorn. Selbst dann versucht man nicht, mich besser kennenzulernen. Menschen, die sich als meine Freunde bezeichnen, wissen nichts über mich, weil sie nicht versuchen, in die Tiefe abzutauchen.“
„Die Dunkelheit kann Angst machen.“
„Das verstehe ich. Mit jeder Abfuhr wird sie ein wenig schwärzer, bis da nichts mehr ist als finsterste Nacht. Ich habe Angst vor dem, was dadurch mit mir passiert.“
Er seufzt. „Dein Problem verstehen viele Menschen vermutlich gar nicht.“
„Soll ich aufgeben?“ Das Echo des Schmerzes frisst sich in ihre Eingeweide.
„Natürlich nicht.“
„Ich sehe dich“, sagt er. „Darf ich dich besser kennenlernen?“
Ihr Herz hüpft. Dass sie mit einem Mal nicht mehr unsichtbar ist, weckt verrückte Hoffnung in ihr. Für einen Moment wird der Schmerz dessen, was ihr fehlt, unerträglich groß.
„Lass uns woanders hingehen“, schlägt er vor. „Ich kenne einen Ort, an dem wir die Höhe noch ein wenig besser genießen können.“
„Bist du sicher, dass du dir die Zeit nehmen willst?“
„Es gibt nichts, was mich davon abhalten könnte. Für mich gehen die Uhren ohnehin anders.“
Sie zögert, überlegt, ob sie genug Kraft hat, um sich mit einem anderen Menschen länger zu unterhalten, ob sie es ertragen wird, sich ganz auf diesen Moment einzulassen und ihm ihre ganze Aufmerksamkeit zu widmen.
Ein ehrliches Lächeln hebt seine Mundwinkel und verlockt sie dazu, ihm zu vertrauen. Es müssen ja nur ein paar Minuten sein. Sie kann sich ja immer noch aus dem Staub machen, wenn es ihr zu viel wird.
„In Ordnung.“
Er strahlt sie an. „Wie schön. Dann machen wir uns auf den Weg.“
Als er sich bewegt, erkennt sie plötzlich eine Verlängerung in seinem Rücken. Schwarze Federn schimmern in geheimnisvollen Farben. Je näher er kommt, umso deutlicher werden die Flügel, die hinter ihm emporragen. Ein Luftzug verursacht ein leises Rascheln, als er zwischen den Federn hindurchstreicht und sie noch verlockender aussehen lässt.
Das Lächeln auf seinem Gesicht nimmt zu. Er streckt die Hand nach ihr aus.
Beunruhigung greift nach ihrem Herzen. Sie macht einen Schritt von ihm weg. Das hier ist nicht richtig.
„Komm mit mir“, bittet er. „Folge mir.“
Vehement schüttelt sie den Kopf. „Nicht heute.“
Er legt den Kopf schief und wird ernst. Mit einem Mal ist die Dunkelheit in seinen Zügen nicht mehr zu übersehen.
Ängstlich entfernt sie sich weiter von ihm und dreht sich dann um. Sie läuft weiter und lässt ihn hinter sich. Vielleicht ein anderes Mal.